Archiv für August, 2016

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17
Aug

Popel in der Nase

Gewidmet ist der Text unserem kleinen Sohn Pepe Jakob, der vor genau einem Monat das Licht der Welt erblickte.

Es fing bestimmt schon früher an, aber in meinen Erinnerungen wurde ich erstmals im Kindergarten getestet: „Kann der Junge zählen, auf einem Bein stehen, Fäden gerade nebeneinander kleben und ganze Sätze sprechen?“ Ich konnte und durfte zur Schule gehen. Seitdem musste ich beinahe täglich mein Können nachweisen: Ich wollte zum Gymnasium, also überprüfte meine Lehrerin, ob ich es draufhabe. Mit 14 wollte ich bei einem Partyservice arbeiten, vorher musste ich ein Hygieneseminar besuchen. Später wollte ich eine Fußballmannschaft betreuen, dafür brauchte ich ein amtliches Führungszeugnis. Dann sollte ich Training geben. Das ging natürlich nicht ohne einen Trainerschein. Kein Autofahren ohne Führerschein, keine Bootstour ohne Segelschein. Um überhaupt eine Chance auf einen Studienplatz zu haben, brauchte ich das Abitur. Im Studium waren Laborpraktika gefordert. Ohne gute Klausuren hätte ich keinen Laborplatz bekommen. Um in den Masterstudiengang zu gelangen, war der Bachelor notwendig. Ohne Studienabschluss keine Chance aufs Referendariat, ohne gutes Examen keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Ohne Gehaltsnachweis keinen Kredit für Auto oder Haus. …

Es gilt also in unserer Welt: Ohne Nachweis, Zeugnis oder Zertifikat geht bei uns nichts. In meinem Leben ist alles verboten, es sei denn ich habe einen Schein, ein Zeugnis oder ein Examen dafür.

Wenn man drüber nachdenkt, ist das auch gut so! Wie würde es sonst auf Deutschlands Straßen zugehen? Welchen Ruf hätten deutsche Produkte, wenn in deutschen Betrieben ohne ausgebildete Arbeitskräfte gewerkelt würde? Wie genießbar wäre das Essen ohne Gesundheitsamt? Wie heilsam ein Krankenhaus ohne studierte Mediziner? Überall und für jeden Bereich haben wir Spezialisten. Jeder Handgriff darf nur von examinierten Fachkräften durchgeführt werden. Je wichtiger ein Arbeitsbereich ist, desto länger, teurer und aufwendiger ist die Ausbildung. Und jetzt stehe ich hier, unsere Zukunft liegt vor mir und ich weiß nicht, wie ich den Popel aus der Nase meines kleinen Sohnes, Pepe, bekomme.

PS: In Deutschland ist es nämlich doch möglich, etwas ohne Studium, Ausbildung, Zertifikat oder Examen zu werden: Eltern und Bundestagsabgeordneter.

0
9
Aug

Sommerferien!

Lange ist es her, dass hier ein Eintrag erschien. Doch nun ist es mal wieder an der Zeit. Gewidmet ist der Eintrag einem sehr guten Freund – ebenfalls Lehrer – der heute seinen letzten Zwanzigergeburtstag feiert: Alles Gute, Dirk!

Eigentlich die entspannteste Zeit des Jahres. Eigentlich! Denn nicht die alltägliche Hetze der übrigen Bevölkerung „Morgens recht und Nachmittags frei!“ oder “Drei Monate Ferien und einen Halbtagsjob bei voller Bezahlung!“ machen mir zu schaffen, sondern die Unterrichtsvorbereitung. „Lächerlich“ werdet ihr skandieren. Doch begleitet mich auf folgendem Gedankenspiel: Ihr sollt eine Branche vorstellen und die Leute zur Partizipation eben dort anregen.

Ich fülle das mal mit etwas Leben und einem Beispiel:

Es gibt ein Unternehmen in der Branche, in dem eine Führungskraft Abitur und Studienabschluss vortäuschte, um in den Vorstand zu kommen. Nach Bekanntwerden der fehlenden Abschlüsse, wird sie jedoch nicht gefeuert, sondern erhält weiterhin ihre Bezüge und Rentenansprüche sowie ihren Vorstandsposten.
Merke: „Es ist nicht wichtig, ehrlich zu sein, Hauptsache die Karriere geht voran!“ Außerdem werde ich bei meiner Präsentation natürlich die Loyalität des Unternehmens positiv hervorheben. Schaufle mir motivational jedoch mein eigenes Grab, weil das Beispiel zeigt, dass Abschlüsse nicht notwendig sind, um eine gute Position mit hoher Bezahlung bei vollkommener Ahnungslosigkeit zu bekommen.

In der gleichen Branche gibt es ein Unternehmen, welches gerade einen neuen Chef sucht. Es gibt mittlerweile nur noch zwei Bewerber, die sich gegen die übrigen durchgesetzt haben und dass, obwohl einer von Ihnen weinende Kinder des Raums verweist, nicht begriffen hat, dass eine Mauer als Staatsgrenze untauglich ist, Belgien als Stadt in Europa bezeichnet und keinen Wert auf kooperierende Unternehmen legt. Trotz dieser und vieler weiterer verbalen Entgleisungen könnte er bald an der Spitze eines mächtigen Konzerns stehen. Vollkommen zurecht werden meine Zuhörer sagen: „Wenn der Chef keine Ahnung hat, wieso sollte sich dann das gemeine Fußvolk um Bildung kümmern?“

Die Branche hat ein weiteres Unternehmen, welches seine Mitarbeiter unter widrigen Bedingungen arbeiten lässt und unbedingt einer Unternehmensgruppe beitreten möchte, jedoch deren grundlegendsten Errungenschaften mit Füßen tritt. Dennoch werden die Geschäftsbeziehungen von der Unternehmensgruppe nicht abgebrochen, weil das eine Unternehmen ein wichtiges Produkt bereithält. Merke: „Es ist nicht wichtig, dass du dich an Regeln hältst oder dich benimmst, wenn du das gewünschte Produkt lieferst und die Kohle stimmt!“

Wenn man diese drei ausgewählten Beispiele in den Kampf an der Bildungsfront in den Politikunterricht führt und an Wahlbeteiligung, Politikverdrossenheit sowie politische Glaubwürdigkeit denkt, dann ist Unterrichtsvorbereitung nicht so einfach wie ein Länderspiel gegen Gibraltar und die Sommerferien nicht das Garteneden.